Im Alter von ungefähr 12 Jahren lässt die Fähigkeit, eine Bildvorlage exakt abzumalen, merkbar nach.
Beobachtet hat dies Betty Edwards, Verfasserin eines Lehrbuchs für Künstler. Sie weist nach, dass es festgefügte Annahmen sind, die ältere Zeichner:innen dazu bringen, Details zu zeichnen, die auf der Bildvorlage überhaupt nicht zu sehen sind, z.B. werden zwei Arme gezeichnet, obwohl nur einer zu sehen ist. Edwards machte eine überraschende Entdeckung: Wenn man die Bildvorlage auf den Kopf stellt, wird die Zeichnung sofort sehr viel exakter. Was ist passiert? Der Teil des Gehirns, der – vereinfacht gesagt – für Kontrolle und Bewertung zuständig ist, verliert die Führung und das Areal des Gehirns für räumliche Vorstellungen wird aktiviert. Das Abzeichnen orientiert sich an den tatsächlich vorhandenen Strichlängen und Winkel und nicht mehr an Erfahrungen und Vorurteilen.

Als ich vor kurzem dieses Beispiel in dem Buch „Drawing on the Right Side of the Brain“ 1 las, kam mir die Idee, dass es beim Coaching ganz ähnlich ist. Es geht darum, vorurteilsfrei wahrnehmen zu lernen. Und ich entdeckte weitere Übereinstimmungen.

Künstler und Coaches – gleiche Themen!

Die Persönlichkeit entwickeln: Auf dem Weg zum professionellen Künstlertum geht es in erster Linie darum, einen individuellen Ausdruck zu finden. Was möchte ich mitteilen? Was sind meine Themen? Was sind meine Ausdrucksmittel? WIE drücke ich mich aus und nicht zuletzt: Wer bin ich? Dieser Weg benötigt Selbstbewusstsein, Geduld, Mut zum Ausprobieren, Ertragen von Frustration und immer wieder Neuanfänge. Dies alles sind auch beim Personal- und Businesscoaching wichtige Themen.

Eins mit sich sein: Im künstlerischen Arbeiten ist da zunächst eine Idee, die freigelassen und ausprobiert werden muss. Die Idee soll sich zuerst vom Unbewussten geleitet entwickeln. Erst dann folgt das Zurücktreten und Betrachten und Beurteilen. Die Veränderung des Fokus‘, dieses wiederholte Vor- und Zurück am Werk führt zu einer Pendelbewegung im Gehirn. Es entwickelt sich der Flow, der eine Stimmung vermittelt, ganz Eins mit sich zu sein. Auch im Coaching wird durch die Nachfrage nach unbewussten Glaubenssätzen und Gefühlen und einer Abgleichung mit den bewussten Zielen und Gedanken ein Wechsel der Perspektiven angeregt und eine Übereinstimmung dieser Aspekte angestrebt.

Sich eigener Muster bewusst werden: Professionelle Künstler macht aus, dass sie ihre besondere Art des Ausdrucks mannigfaltig variieren können, aber dennoch in ihrer Individualität erkennbar sind. Das beinhaltet, sich zunächst seiner eigenen Muster bewusst zu werden. Auch kann eine Variation nur dann erfolgen, wenn klar ist, welche Teile des Musters essenziell und welche variierbar sind. Erkenntnisse darüber kommen dabei oft durch Intuitionen und Wahrnehmung von Gefühlen. Auch im Coaching sind intuitive Erinnerungen und vermeintliche „Glaubenssätze“ hilfreich, um der eigenen Denkweise auf die Schliche zu kommen. Wenn ich diese hinterfrage, gelange ich bald zu Sinnfragen und Ethischen Grundsätzen. Das sind die Fundamente, um den eigenen Weg zu finden.

Neue gedankliche Verbindungen schaffen: Künstlerisches Tun ist meist mit einem körperlichen Einsatz verbunden. Bei der Entwicklung neuer Ideen hilft die Benutzung der Hände. Sie ist so komplex, dass damit im frühkindlichen Alter eine große Entwicklung des neuronalen Netzes im Gehirn einhergeht. Die Aktivierung von neuronalen Zellverbindungen im Gehirn ist ein Leben lang möglich. So schreibt die Gehirntrainerin und Autorin Bettina Jasper: „Wenn die Finger eine neue Übung einstudieren, die das Denken miteinschließt, arbeitet der Geist auf Hochtouren. Sobald die Übung aber beherrscht wird und automatisch abläuft, muss sich der Kopf nicht mehr anstrengen… Darum ist es so wichtig, immer wieder neue Reize zu setzen…“2 Im kognitiven und gestalterischen Coaching wird geschrieben, gemalt, gezeichnet, ausgeschnitten und Teile neu zusammengefügt – für viele Klient:Innen eine ungewohnte Tätigkeit, die sie oft an kindliche Erfahrungen erinnert.

Dem Unbewussten vertrauen: Wie beim Schaffen eines Kunstwerks soll auch beim Coaching gelernt werden, die vorherrschende laute Stimme der Bewertung und Vorverurteilung in die Schranken zu weisen und auch dem Unbewussten und Intuitiven zu trauen. Um diese innere Stimme in sich zum Klingen zu bringen, wählen viele Künstler die Meditation, vorbereitende Rituale, absolute Ruhe oder Anderes. Besonders Trance-Elemente können im Coaching dieses Vertrauen der Klientin in sich erfahrbar und nutzbar zu machen.

Grenzen setzen und Selbstfürsorge übernehmen: Entgegen der landläufigen Meinung, als Künstler müsste man nur auf die Inspiration warten, die dann vom Himmel fällt, geht es bei professionellen Künstlern darum, die gemachten Erfahrungen willentlich zu organisieren und einzusetzen, sich aber auch die Ruhepausen und Auszeiten zu nehmen, die man braucht, um wieder Neues zu entwickeln. Im Business-Coaching sind die Themen „Grenzen setzen“ und „Selbstfürsorge“ von zunehmender Bedeutung, ungeachtet, welchen Beruf man ausübt

Von der Idee in die Praxis: Als Personal- und Business-Coach und als Trained Hypnotist bin ich immer wieder erstaunt darüber, wie oft sich die Ziele von professionellen Künstlern mit den Zielen der Klientinnen im Coaching decken. Hier kann ich auch die Erfahrungen nutzen, die ich als Künstlerin über die letzten 20 Jahre gemacht habe. Bilder im Bewussten und in Hypno-Reisen im Unbewussten zu besprechen sind für mich Teile einer ganzheitlichen Herangehensweise. Ich beginne meine Sitzungen mit kleinen Übungen, die den Fokus auf den Körper und den Raum lenken. Damit setzte ich einen Fokus auf die bildliche und räumliche Wahrnehmung. Mit diesem Bewusstsein kann ich meine Klient:innen leichter zur Aktivierung ihrer Ressourcen animieren. Auch das Setzen und Legen von Figuren und Moderationskarten und das Herstellen von Bildcollagen ist Teil einer körperorientierten und intuitiven Erfahrung. Wenn ich die Klientinnen dazu animiere, vorab der inneren Kritikerin in ihrer Phantasie einen Beobachterposten zuzuweisen, fällt es ihnen viel leichter, Gefühle und neue Ideen zuzulassen.

Einmal die Dinge auf den Kopf stellen? Es kann sich lohnen!

erstmals erschienen im Newsletter bei www.aquariana.de am 26.06.23